Europa verliert ökonomisch an Substanz

Familienunternehmerinnen und -unternehmer appellieren an EU: Die Regulierungsflut stoppen

Die EU ist der größte Binnenmarkt der Welt und eine Wertegemeinschaft. Die Familienunternehmen in Deutschland wollen ein erfolgreiches Europa. Doch sie sind in großer Sorge, weil Europa in seiner wirtschaftlichen Dynamik hinter andere Weltregionen zurückgefallen ist. Zugleich engt die maßlose Regulierung aus Brüssel Familienunternehmen immer stärker ein. Europäische Gesetze schreiben Unternehmen in immer größerer Detailtiefe vor, wie sie zu handeln haben. Dies soll dann von staatlicher Seite kontrolliert werden. Ein für beide Seiten unmögliches Unterfangen. Im Ergebnis haben Unternehmen - anstatt sich mit Märkten und Kunden zu befassen - immer mehr Administration zu schultern und eine steigende Zahl von Berichterstattungspflichten zu erfüllen. In den vergangenen Monaten hinzugekommen sind etwa die CSR-Richtlinie, eine neue Richtlinie zur Entgelttransparenz oder Berichtspflichten im Rahmen des CO2-Grenzausgleichsmechanismus. Außerdem gilt: Die fehlende Praxistauglichkeit vieler Gesetze schafft eklatante Rechtsrisiken und führt zu hohen administrativen Kosten. Dabei gehört Rechtssicherheit zu den Eckpfeilern der Rechtsstaatlichkeit.

Wir haben einen kritischen Punkt erreicht. Die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Europa steht auf dem Spiel. Wir appellieren an die die EU, diesen Kurs zu beenden und stärker auf marktwirtschaftliche Lösungen zu vertrauen. Die Politik soll Ziele vorgeben, doch sie überfordert die Verwaltung, Bürger und Unternehmen, wenn sie glaubt, zu wissen, was der beste Weg zur Zielerreichung ist.

Wie alarmierend die Situation ist, verdeutlichen exemplarische Beispiele aus der Praxis:

  • Ein namhaftes Familienunternehmen aus dem Bereich Luftfiltration mit rund 22.000 Mitarbeitern berichtet zur CSR-Richtlinie, dass jeweils bis zu 1149 Datenpunkte für insgesamt 79 Gesellschaften quantitativ und qualitativ zu bewerten und gegebenenfalls zu erfassen sind. Man rechnet mit Einmalkosten in Höhe von vier bis fünf Millionen Euro. Hinzu kommen ein Vielfaches an Personalkosten, Ausgaben für Auditierungs- und Beratungsdienstleistungen sowie für den Aufbau einer IT-Infrastruktur. Geld, das ausschließlich für eine zusätzliche Berichterstattung ausgeben wird und das für Transformation, Forschung und die Bemühungen um mehr Nachhaltigkeit fehlt.
  • Ein weiteres mittelständisches Unternehmen macht diese Erfahrung: Im Rahmen des neuen C02-Grenzausgleichsmechanismus (CBAM) kommt es in verschiedenen Phasen ebenfalls zu neuen regelmäßigen Reportingpflichten für Unternehmen. Für die Berichte müssen Unternehmen bei ihren Lieferanten aus Drittstaaten Angaben zu direkten – und in vielen Fällen auch zu indirekten – Schadstoffemissionen anfragen und anschließend aggregieren. Hierfür wird seitens der EU ein Berechnungstemplate zur Verfügung gestellt, welches pro Lieferant und Produktionsstandort dutzende tiefgreifende Pflichtangaben fordert. Die entsprechenden Guidelines der EU umfassen 266 DIN A4-Seiten für Lieferanten und 104 Seiten für deren Kunden.

Erste Initiativen und Vorschläge der EU-Kommission zum Abbau von Berichtspflichten sind ein richtiges Signal. Doch ihr Umfang ist homöopathisch. Ihre Umsetzung ist weitgehend ungewiss. Für eine dringend nötige Trendwende zur Entbürokratisierung braucht es weitere Ansatzpunkte. Darauf kommt es jetzt an:

  • Alle neuen Vorhaben müssen in ihrem regulatorisch intensiven Teil auf Eis gelegt werden. Insbesondere auf neue Belastungen durch die Lieferkettenrichtlinie sollte verzichtet werden. Es darf keine verschärfte Haftung geben und die Überprüfung von Lieferanten aus der EU sollte entfallen. Große Familienunternehmen berichten, dass sie eine zweistellige Zahl neuer Mitarbeiter im Bereich Compliance einstellen müssen, um die Auflagen zu erfüllen. Das führt zu einem starken Anstieg der Verwaltungskosten. Hier benötigen wir ein Umdenken.
  • Die „one in, one out“-Regelung der EU-Kommission muss konsequent umgesetzt werden. Die in der Praxis drastisch zunehmenden Bürokratiekosten müssen zunächst auf Grundlage einer europäischen verbindlichen Methode ermittelt und auf dieser gemeinsamen Basis reduziert werden.
  • Vorgaben müssen für Unternehmen praktisch umsetzbar sein, ohne dass dies zu unverhältnismäßig hohem Verwaltungsaufwand führt. Andernfalls sollten sie zurückgenommen werden. Die Anforderungen bei der Nachhaltigkeitsberichterstattung sind häufig uneindeutig und führen damit zu struktureller Rechtsunsicherheit, viele Informationen liegen gar nicht vor. Die Berichtsanforderungen der CSR-Richtlinie müssen verschlankt und angepasst werden.
  • Die Gesetzesfolgenabschätzung muss konkrete Praxis-Checks enthalten, an denen Familienunternehmen beteiligt werden. Das gilt auch für das Messen des Erfüllungsaufwands. Auch müssen Folgenabschätzungen für einzelne Gesetze die Entwicklung des regulatorischen Umfelds insgesamt einbeziehen.
  • Das Denken in „Silos“ innerhalb der Kommission ist Kernursache für Übermaß und Inkonsistenzen der Regulierung. Es fehlt eine Gesamtsteuerung. Die von der EU-Kommission geplante Einsetzung eines KMU-Botschafters kann ein guter Schritt sein, wenn die Position mit nötigen Kompetenzen ausgestattet wird und sie oder er sich um die Belange von Familienunternehmen aller Größenklassen kümmert. Übermittelte Inhalte müssen politische Berücksichtigung finden.

So lassen sich die Standortbedingungen in Europa verbessern, ohne politische Ziele aufzugeben. Dies ist dringend nötig, um den wirtschaftlichen Substanzverlust endlich zu stoppen. Notwendig ist ein Kurswechsel der Politik, der die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit zum Ziel hat. Nur so wird Europa erfolgreich bleiben.

Im Namen des Kuratoriums der Stiftung Familienunternehmen und Politik. Dem Kuratorium gehören mehr als 50 namhafte Familienunternehmen an.

Brüssel, im November 2023