03/27/2023
Philipp Haußmann

Near-Shoring in Osteuropa

Re-Shoring, Near-Shoring oder gar Friend-Shoring: Die russische Invasion in die Ukraine, durch Corona schon angespannte Lieferketten, absehbare Friktionen im Verhältnis zu China und nicht zuletzt das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz – es gibt immer mehr und immer dringlichere Gründe, warum deutsche Unternehmen eine Verlagerung ihrer Produktion in mittel- und osteuropäische Länder erwägen.

Die Vorteile scheinen auf der Hand zu liegen: Gut ausgebildete Fachkräfte, moderate Lohnkosten, ein durch die EU garantierter, verlässlicher rechtlicher Rahmen, vergleichsweise stabile politische Verhältnisse und nicht zuletzt die geografische und kulturelle Nähe sollten an sich ein gutes Investitionsklima garantieren. Die roten Teppiche liegen bereit. Und lebenswert sind die Länder allemal!

Wer eine Produktionsverlagerung erwägt, sollte allerdings genau hinschauen. Denn zu vieles ist im Umbruch und die Unterschiede in den Ländern sind gewaltig. Zum einen trifft der Krieg in der Ukraine die Länder hart. Energie ist teuer. Die Inflationsraten liegen weit über der deutschen. Die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge, die namentlich Polen, Tschechien und die baltischen Länder generös und vorbildlich handhaben, birgt auch Sprengstoff. Die Bildungs- und die Sozialsysteme kommen unter Druck. In einigen Ländern können wir politische Instabilitäten erwarten – mit permanenten Neuwahlen wie heute schon in Bulgarien; durch disruptive Regierungswechsel; durch das Erstarken rechtspopulistischer Kräfte nach ungarischem Vorbild. Ländern mit gefestigtem politischem System und einer zivilen politischen Kultur – zu nennen wären hier vor allem die baltischen Länder, Tschechien, die Slowakei und Slowenien – droht kein Durcheinander. Dort wirken Verwaltung, Justiz und eine vielfältige Presse zusätzlich stabilisierend. So zuversichtlich kann man andernorts nicht sein. Familienunternehmen wie die Klett Gruppe sind aber in besonders hohem Maß auf langfristig verlässliche Rahmenbedingungen angewiesen, denn wir wollen lange in einem Land bleiben.

Unabhängig von der aktuellen Krisenlage gibt es auch hausgemachte Probleme, die nicht jede Investition an jedem Standort gleichermaßen sinnvoll machen.

Die Bildungssysteme in Mittel- und Osteuropa sind im Großen und Ganzen erstaunlich leistungsfähig, was die akademische Bildung betrifft. Ein duales System mit all seinen Vorteilen für die Fachkräfteausbildung hat noch kein Land wirklich etablieren können. Große deutsche Unternehmen leisten mit eigenen Berufsbildungseinrichtungen Erstaunliches. Wer als Mittelständler kommt, trifft aber zunehmend auf harte Konkurrenz um Fachkräfte. Die Demografie und die hohe Abwanderung von Fachkräften ins westliche Ausland tun ein Übriges. Die mittel- und osteuropäischen Länder haben dieses Problem schon lange erkannt und bemühen sich durchweg um Verbesserungen. Ein kluger Unternehmer aber wird von Beginn an in die Aus- und Weiterbildung seiner Fachkräfte investieren – selbst oder mit Partnern.

Viel bedenklicher erscheint mir, dass in einigen wenigen Ländern Tendenzen zu erkennen sind, die dem unseligen ungarischen Beispiel folgen könnten. In Ungarn muss ich heute, nach unzähligen Gesprächen mit deutschen Investoren, feststellen, dass deutsche Unternehmen nicht mehr auf die Verlässlichkeit der Regierung zählen können. Zwar sind die großen deutschen produzierenden Unternehmen, namentlich aus der Automobilindustrie, sehr zufrieden in Ungarn. Kleinere Unternehmen und Unternehmen anderer Branchen – Dienstleistungen, Handel, Baustoffe, Telekommunikation etc. – erleiden eine Sondersteuer nach der anderen. Sie treffen auf unsaubere Genehmigungsverfahren, fragwürdige öffentliche Ausschreibungspraktiken, Nepotismus und insgesamt auf eine deutliche Ungleichbehandlung gegenüber nationalen Unternehmen. Die Regierung hat die Schaffung ungarischer Champions mehrfach angekündigt – für deutsche Investoren ist dieses Versprechen an die Wähler eine offene Drohung. Von Friend-Shoring könnte man hier kaum sprechen.

In unruhigen Zeiten knapper öffentlicher Kassen könnten einzelne Länder ähnlichen populistischen Versuchungen erliegen. Darauf gilt es zu achten. Und gleichwohl gilt: Für deutsche Unternehmen ist Mittel- und Osteuropa nach wie vor und auf lange Sicht eine valide Option, um die Produktion und sichere Lieferketten langfristig zu gewährleisten.

Die Stuttgarter Klett Gruppe ist ein führendes europäisches Bildungsunternehmen mit 100 Unternehmen in 22 Ländern. Ihre Verlage versorgen Schulen und Kitas mit Bildungsmedien. Klett betreibt daneben Kitas, Schulen, Berufsschulen und Hochschulen. In Mittel- und Osteuropa ist Klett in neun, bald elf Ländern aktiv. 2021 setzte die Gruppe mit mehr als 80 Unternehmen 985,4 Millionen Euro um und beschäftigte insgesamt 9.441 Mitarbeiter.